FiBS-Forum 55 Demografie und Fachkräftesicherung erfordern Ausbau von Hochschulen und Berufsbildung und eine bessere Schulbildung
Demografie und Fachkräftesicherung erfordern Ausbau von Hochschulen und Berufsbildung und eine bessere Schulbildung
Erscheinungsdatum:
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FiBSErscheinungsort:
BerlinDie vorliegende Untersuchung geht der Frage nach, ob die Zahl der zukünftigen Studien- und Ausbil-dungsanfänger/innen und der daraus resultierenden Hochschul- bzw. Ausbildungsabsolvent/innen ausrei-chen würde, um den zukünftig – nach aktuellen Fachkräfteprognosen – zu erwartenden Einstellungsbedarf der Unternehmen zu befriedigen.
Ausgangspunkt sind dabei aktuelle Arbeitsmarktprognosen eines Konsortiums um Economix im Auf-trag des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales, von Prognos für den Verband der Bayerischen Wirt-schaft sowie die BIBB-IAB-Projektionen auf der einen Seite und der Mikrozensus 2013 des Statistischen Bundesamtes, die FiBS-Prognosen zur Zahl der Studienanfänger/innen sowie zu den Ausbildungsneuver-trägen in der beruflichen Bildung.
Die Ergebnisse zeigen, dass weder die Zahl der in den kommenden Jahren zu erwartenden Ausbil-dungsneuverträge noch die Zahl der Studienanfänger/innen – trotz der derzeit relativ hohen Studierneigung bzw. Studienanfängerquote – ausreichen werden, um den zukünftigen Einstellungsbedarf der Unterneh-men zu befriedigen. Zudem reichen weder in der beruflichen Ausbildung noch in den Hochschulen die derzeitigen Kapazitäten aus, um die für die langfristige Fachkräftesicherung erforderlichen Zahlen der Aus-bildungs- bzw. Studienanfänger/innen zu ermöglichen. Beide Bereiche müssen daher gleichzeitig beträcht-lich ausgebaut werden; d.h. die Unternehmen müssen erheblich mehr Ausbildungsplätze anbieten, als sie es derzeit tun.
Um den zukünftigen Einstellungsbedarf der Unternehmen langfristig befriedigen zu können, müsste die Zahl der Studienanfänger/innen kurzfristig und nachhaltig um 50.000 bis 75.000 erhöht werden. Statt 500.000 Erstsemester müssten also 550.00 bis 575.000 junge Menschen ein Studium an einer deutschen Hochschule aufnehmen; dies wären 15 % mehr als selbst in den letzten „Boom-Jahren“ ein Studium auf-genommen haben. Diese Größenordnung müsste bis Mitte des kommenden Jahrzehnts gehalten werden; die Studienanfängerquote müsste somit von derzeit 57 % auf 65 % erhöht und nicht gesenkt werden, wie es einige fordern.
In der beruflichen Bildung zeigt sich ein ähnliches Bild. Da die Zahl der aus dem Arbeitsmarkt aus-scheidenden beruflich Qualifizierten aus demografischen Gründen in den kommenden Jahren ansteigt, müsste die Zahl der neuen Ausbildungsverträge von derzeit 522.000 kurzfristig auf über 560.000 und bis 2025 auf 675.000 ansteigen, vorausgesetzt, die Erwerbsbeteiligung der beruflich Qualifizierten kann erheb-lich erhöht werden. Dies erfordert aber u.a., dass die Übergangsquote beruflich Qualifizierter in ein Hoch-schulstudium, die derzeit bei etwa 20 % liegt, reduziert wird, was allerdings seinerseits wieder ungünstige Auswirkungen auf die Studienanfängerzahlen hätte. Dieser Zusammenhang zeigt jedoch, dass beide Be-reiche miteinander zusammenhängen und es somit einer übergreifenden Strategie zur künftigen Weiter-entwicklung bedarf, anstatt sie gegeneinander auszuspielen.
Im Ergebnis und unter Berücksichtigung dessen, dass 90.000 Studienanfänger/innen aus dem Ausland kommen und rund 100.000 Studienanfänger/innen 24 Jahre und älter sind, d.h. nicht zur klassischen Erstausbildungsklientel, sondern zu den Weiterbildungsstudierenden zählen, ist die angeblich zu hohe Studierneigung kein Problem für das Berufsausbildungssystem. Vielmehr beginnt über ein Drittel der Stu-dienberechtigten eine berufliche Ausbildung. Einige der empirischen Kernelemente der These vom „Aka-demisierungswahn“ sind somit nicht zu halten. Dies gilt auch für die Behauptung, dass die Zahl der Studi-enanfänger/innen größer sei als die der neuen Auszubildenden.
Ferner ist die demografische Entwicklung nicht das Kernproblem des Berufsbildungssystems. Trotz der relativ hohen Zahl der Studienanfänger/innen stehen jedes Jahr rund 1 Mio. junge Menschen für berufliche Ausbildungen zur Verfügung. Die Engpässe entstehen vielmehr dadurch, dass
- 18 % der Schulabgänger/innen funktionale Analphabet/innen sind, d.h. nicht richtig lesen, schreiben und rechnen können, und somit selbst einfachste Arbeitsaufgaben nicht verstehen und bewältigen können;
- Migrant/innen es nach wie vor schwer haben, einen Ausbildungsplatz zu finden, und bei der Ausbil-dungsstellensuche objektiv benachteiligt werden;
- zu viele Ausbildungsstellen unbesetzt bleiben, weil ausbildungsinteressierte Jugendliche und ausbil-dungswillige Betriebe nicht zusammenfinden;
- jeweils rund ein Viertel die angefangene Ausbildung bzw. das Studium abbricht oder nicht erfolgreich abschließt.
Damit sind auch die Handlungsoptionen und -erfordernisse determiniert:
- weitere und deutliche Reduzierung der Zahl bzw. des Anteils an funktionalen Analphabet/innen im Schulsystem;
- Erhöhung der Ausbildungschancen von Migrant/innen, z.B. durch Überzeugungsarbeit bei Ausbildungs-betrieben und Eltern, aber auch durch bessere Bildungsleistungen bei einem Teil von ihnen;
- Anpassung der Berufsorientierung an die Bedürfnisse und Bedarfslagen junger Menschen;
- bessere und sachgerechtere Unterstützung Insbesondere von kleinen und mittleren Unternehmen beim Ausbildungsmarketing;
- flexible und bedarfsorientierte Coaching-, Tutoring- und Nachhilfeangebote während der Ausbildung.
Zwar gibt es zu allen diesen Punkten, oft bereits seit vielen Jahren, Maßnahmen, Projekte und Pro-gramme, allerdings sind sie fast alle temporär angelegt, auf bestimmte eng umgrenzte Zielgruppen ausge-richtet, regional begrenzt und zudem insbesondere deutlich unterdimensioniert sowie offenkundig, von Ausnahmen abgesehen, in sehr begrenztem Maße erfolgreich.